Ruhig steht er da am Ufer. Das Wasser umspült mit Schaumkronen vereinzelte Wurzeln, welchen es Sand abgräbt. Blätter, die er verloren hat, verfangen sich in dem kleineren Wurzelgeflecht und zerfallen zu dem, was sie einst waren. Ich setzte mich zu ihm. Er strahlt eine Ruhe aus, die der Vergänglichkeit eines einzelnen Menschenlebens überlegen scheint. Sein Stamm besteht beim näheren Betrachten nicht aus einem Stück, sondern aus mehreren kleinen Bäumen, die sich vereinigten. Auch teilen sich diese in der Krone wieder, als wäre Ihnen bewusst, dass Sie sich gegenseitig für den festen Stand brauchen, um über sich selbst zu wachsen. Durch die Baumkronen blitzt das Licht der letzten Sonnenstrahlen am Abend und wirft scharfe Lichtkegel durch die warme Sommerluft bis auf den Boden.
Was hat er wohl schon gesehen, was hat er getrotzt. Träumt er. Lehnt man sich an ihn, scheint er mit einem hinaus auf das Wasser zu blicken. Sehnsüchtig. Wissend. Sein Herz schlägt für die blaue Tiefe, der er auch in all den Jahren nicht überdrüssig wurde. Die ihn auch nach all den Jahren mit dem immer gleichen Blick am Wasserrand nicht loslässt. Er hätte auch entscheiden können, sich aufzulösen und dem Wind zu folgen.
Welche Art mag er wohl entsprechen. Gibt es nicht in fernen Welten indigener Völker eine Baumart wie diesen, der aus einer Wurzel gebaut scheint, die sich nach oben windet und hierbei Räume bildet, in denen Geister leben. Verirrt man sich im dichten Urwald oder im Leben, soll man sich an seinen Fuß setzten und ihm zuhören.
War ich eingedöst? Ein lautes Geräusch hatte mich geweckt. Eine Gruppe von Mädchen und Jungen sitzt plötzlich wenige Meter entfernt. Ich winke Ihnen und rufe, doch sie scheinen mich nicht zu hören. In welch seltsamen Zustand mag das hier gerade stattfinden? Lachen und Freude dringen an mein Ohr. Wenn auch nur Wortfetzen zu verstehen sind, ist diese Leichtigkeit und tiefe Zufriedenheit zu spüren, die herrscht, wenn die Welt vor einem liegt und der Horizont unendlich erscheint. Einer der Jungen erblasst und scheint sich in Sand auszulösen, den ein leichter Wind davon trägt. Ein Mädchen steht auf, entfernt sich von der Gruppe, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Mittlerweile ist der Abend hereingebrochen und die Sonne senkt sich spiegelnd in die Wasseroberfläche. Die kleine Gruppe rückt näher zusammen, sie scheinen sich den aufgehenden Sternen zu widmen. Mit wachen Augen und eigenen Träumen. Zwei von Ihnen haben wohl etwas gesehen, denn Sie erheben sich und gehen auf das seichte Wasser zu, welches züngelnd das Land umfasst. Etwas scheint dort zu schwimmen. Als sie zurückkommen, ist eine Flasche mit einem kleinen Inhalt zu erkennen. Auch die Gruppe drängt sich nun um das Objekt und betrachtet es. Der Träger der Flasche öffnet diese und holt etwas erdfarbig Bohnenartiges heraus. Gemurmel ist zu hören. Was es ist, scheint auch von Ihnen niemand zu wissen. Der Trupp setzt sich jedoch schließlich in Bewegung und kommt auf mich zu. Sie gehen durch mich hindurch, als wäre ich ein Geist. Auch der Baum existiert für Sie – noch – nicht, denn einer von Ihnen hat einen größeren Stock, mit dem er nun eine kleine Mulde an dem Platz gräbt, an dem eigentlich der Baum steht. Langsam dämmert mir, welche Wiege hier gerade zu sehen ist. Freudig auf den kleinen Maulwurfshügel schauend verabschiedet sich die Gruppe und geht ihrer Wege.
Das Meer entfernt sich mit einem Mal. Ein Augenschlag und der nächste Tag ist herangezogen wie im Zeitraffer. Ein Mädchen sitzt an der Wasserkante. Ich erkenne Sie wieder aus der Gruppe von gestern Abend, aber Sie ist nun deutlich älter. Mein Blick fällt auf den Platz des Baumes. Dieser ist an seinem Stammende transparent geworden und hindurch scheint ein zierliches Pflänzchen, dass ihm gleicht. Auch das Mädchen betrachtet dieses, bevor ihr Blick auf das weite Wasser fällt. Etwas von der Leichtigkeit scheint verschwunden, denn Ihr Gesicht zeichnet eine Schärfe. Ein älterer Mann, wohl ihr Vater, tritt heran und legt Ihr eine Hand auf die Schulter. Auch er blickt auf das Wasser. Ihr Blick entspannt sich und Sie neigt ihren Kopf in Richtung seiner Hand. Im nächsten Moment ist er verschwunden, als wäre er nie hier gewesen. Aus mir unbekannten Gründen glaube ich Ihr Gesicht zu kennen, auch wenn ich es nicht zuordnen kann.
Wieder entschwindet das Wasser. Ein weiterer Augenschlag und ich sehe die Gruppe von früher vor mir, diesmal lachend und in den Jahren fortgeschritten. Einige haben wohl bereits eigene Kinder dabei. Doch nicht alle sind hier. Die Frau, deren Gesicht ich glaube zu kennen sitzt neben einem Mann, der den Arm um Sie gelegt hat und ihr sanft über den Rücken streicht. Die Stimmung ist ausgelassen, als hätten sich alle dazu verabredet, sich an dem Ort zu treffen, an dem Sie seinerzeit die Leichtigkeit und Weite des Bevorstehenden gespürt hatten. Ein Feuer wird entfacht, es riecht nach leckerem Essen und schwerem Wein. So sitzen Sie neben dem nun schon übergroßen Baum, den Sie einst aus der Flaschenpost säten hatten.
Ein erneuter Augenschlag. Mit dem Blick auf das Wasser sehe ich zwei große Schiffe. Erst bei genauerem Betrachten ist zu erkennen, dass diese Schiffe Luken mit Kanonen haben, aus denen Rauch aufsteigt. Rufe und Schreie sind von den Oberdecks der beiden Schiffe zu vernehmen. Panisch stehe ich auf und verstecke mich hinter dem Baum. Wir waren doch nicht im Krieg und die Schiffe sahen auch aus wie aus vergangenen Zeiten. Die Luft roch nach Schweröl und Verbranntem. Mein Versteck seufzt unmerklich und seine Krone senkt sich im Wind. Die beiden Schiffe hatten Schlagseite bekommen. Eine Absurdität. Kolosse erschaffen durch Hände, welche sich über Jahrmillionen entwickelten, welche Jahrhunderte brauchten, um zu lernen, Energie und Rohstoffe zu bändigen, welche etwas darstellten, was wie ein Wunder scheint. Dies alles ging nun in deren Zerstörung und der Kulmination von Hass auf. Der Himmel verdunkelt sich mit einem mal, Sturm und Regen ergießen sich, während sich das Wasser erneut in sein Versteck zurückzieht. Ich muss meine Augen schließen und als ich Sie wieder öffne, war die Szenerie verschwunden und hat einem weiteren sonnigen Tag Platz gemacht.
Zu sehen ist nun wieder das Paar mit der Frau, deren Gesicht ich nun erkenne. Auch haben Sie eine Tochter bei sich, die freudig an einem Ast des Baumes hangelt und kopfüber herunter hängt. Es ist meine Großmutter und mein Großvater, die hier vor mit stehen und das Mädchen ist in der Konsequenz meine Mutter. Ein tiefes Gefühl überkommt mich, das ich nicht erklären kann. Eine Träne läuft meine Wange hinunter. Ich wische mir mit dem Ärmel über das Gesicht. Die Szenerie hat einer Neuen platz gemacht, in der meine Mutter und mein Vater mit einem Kind im Arm unter dem Baum stehen. Sie haben ein Schloss in der Hand, welches Sie an einer der Wurzeln des Stammes befestigen. Sie schauen sich einander an.
Ein leises Pfeifen dringt an mein Ohr. Die Augen aufschlagend finde ich mich angelehnt an den Stamm des Baumes. Langsam realisierend, dass ich mich nicht bewegt hatte und wohl eingeschlafen war, gehen mir die Szenerien durch den Kopf. Das letzte Bild meiner Eltern tritt vor das geistige Auge. Ich springe auf und laufe zu der Stelle an der Rückseite des Baumes, an dem ich das Schloss vermute. Tatsächlich hängt dieses dort. Die Wurzel ist an der Stelle schmäler und umschließt es. Mit etwas Mühe lässt es sich drehen, sodass die Oberseite zu sehen ist. Unsere Initialen.
Dieser Ort ist kein Zufall. Mein Leben ist mit diesem Baum verbunden und mein Leben wird Spuren an diesem Ort hinterlassen, wenn ich heute auch noch nicht weiß, wie diese aussehen mögen.